«Wir müssen als Standort attraktiver werden und die Digitalisierung vorantreiben»

Der Zürcher Wirtschaft stehen herausfordernde Jahre bevor, denn in naher Zukunft fehlen ihr die qualifizierten Arbeitskräfte. Zu diesem Schluss kommt eine Studie des Zürcher Amtes für Wirtschaft und Arbeit. Die Leiterin des Amtes, Andrea Engeler, erklärt im Interview woher dieser Mangel an Arbeitskräften kommt und zeigt auf, was dagegen konkret unternommen werden kann.

Frau Engeler, der Züricher Wirtschaft fehlen laut einer Studie Ihres Amtes für Wirtschaft und Arbeit bis ins Jahr 2050 rund 210‘000 Arbeitskräfte. Was sind die Gründe dafür?
Andrea Engeler: Wenn unsere Wirtschaft künftig so weiterwachsen soll wie in den letzten 20 Jahren, dann braucht es tatsächlich zusätzliche Arbeitskräfte. Der Grund dafür ist, dass in den nächsten Jahren immer mehr Menschen in den Ruhestand treten und der Anteil der Berufstätigen an der Gesamtbevölkerung dadurch abnimmt. Wenn wir jetzt handeln, können wir noch auf diese Entwicklung reagieren.

Kann man schon sagen, in welchen Bereichen diese Arbeitskräfte fehlen werden?
Es handelt sich hier um eine Entwicklung, die sich in vielen Bereichen und Berufsfeldern bemerkbar macht und sich noch akzentuieren wird. Ein besonders hoher Bedarf an Arbeitskräften zeichnet sich beispielsweise im Sozial- und Gesundheitswesen ab. Auch in der Industrie, wo viele MINT Berufe angesiedelt sind, dürften die Rekrutierungsschwierigkeiten weiter zunehmen. Bereits heute stark betroffen ist weiter die ICT-Branche, da ihre Kompetenzen in allen innovationsgetriebenen Geschäftsfeldern gebraucht werden.

Andrea Engeler leitet seit gut zwei Jahren das Zürcher Amt für Wirtschaft und Arbeit.

Wie kommt die Zahl von 210‘000 fehlenden Arbeitskräften zustande?
Es handelt sich um ein rechnerisches Szenario. Wenn man davon ausgeht, dass das Bruttoinlandprodukt und die Arbeitsproduktivität bis 2050 so weiterwachsen sollen wie in den letzten 20 Jahren und das Potential der vorhandenen Arbeitskräfte ebenfalls gleichbleibend ausgeschöpft wird, dann resultiert daraus die genannte Beschäftigungslücke von 210‘000 Arbeitskräften.

Wie wird die Bevölkerung diesen Mangel zu spüren bekommen?
Finden die Unternehmen keine zusätzlichen Arbeitskräfte wird das Wirtschaftswachstum tiefer ausfallen. Das wiederum würde sich unmittelbar auf unseren Wohlstand und unsere Einkommen auswirken. Auch das Finanzierungsproblem unserer Altersvorsorge würde sich weiter zuspitzen.

Wie sehen mögliche Gegenmassnahmen aus?
Es gibt mehrere Stellschrauben. Kurz zusammengefasst ist es wichtig, dass wir unsere Standortattraktivität laufend verbessern, die Digitalisierung vorantreiben um die Produktivität zu steigern und zusätzlich das schlummernde Potential auf dem Arbeitsmarkt besser nutzen. Die Quote der Teilzeitbeschäftigten in der Schweiz ist vergleichsweise sehr hoch. Um hier etwas zu erreichen, ist es zum Beispiel wichtig, die Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu fördern. Natürlich könnte das Problem auch durch eine Erhöhung oder Flexibilisierung des Rentenalters entschärft werden – doch das ist eine politische Frage.

Ist der Arbeitskräftemangel nur ein Zürcher Problem oder ist die gesamte Schweiz davon betroffen?
Die Entwicklung betrifft die ganze Schweiz. Landesweit betrachtet ist der zusätzliche künftige Bedarf an Arbeitskräften sogar noch grösser als im Kanton Zürich. Zürich hat als urbaner Kanton eine vergleichsweise etwas jüngere Bevölkerung als viele andere Kantone.

Was können die einzelnen Kantone dagegen tun und was müsste der Bund gegen dieses Problem unternehmen?
Der Bund ist hier tatsächlich stark gefordert, wenn es etwa um Anpassungen des Rentenalters oder um Flexibilisierungen beim Arbeitsrecht geht. Aber auch wir als Kanton Zürich können aktiv werden und sind es bereits – beispielsweise mit unserer Standortförderung oder unseren regionalen Arbeitsvermittlungszentren. Gefordert sind aber auch die einzelnen Branchen und Unternehmen. Der Wettbewerb um gut qualifizierte Fachkräfte hat in den letzten Monaten nochmals an Fahrt aufgenommen.

Was unternimmt die Standortförderung gegen diesen Trend?
Ein wichtiger Auftrag der Standortförderung in meinem Amt für Wirtschaft und Arbeit ist es, einen Beitrag für attraktive Rahmenbedingungen zu leisten. Der Wirtschafts- und Lebensraum Zürich muss sowohl für Unternehmen, als auch Arbeitnehmende attraktiv sein und bleiben. Nur so gelingt es uns, hochqualifizierte Fachkräfte nach Zürich zu bringen. Auch die regionalen Standort- und Wirtschaftsförderungen, wie House of Winterthur, leisten hier einen wichtigen Beitrag. Mit unseren regionalen Arbeitsvermittlungszentren (RAV) sind wir zudem bereits heute dabei, die digitalen Kompetenzen der Stellensuchenden für den Arbeitsmarkt der Zukunft zu stärken und zu fördern.

Viele freie Stellen und ein Mangel an Arbeitskräften – wandelt sich der Arbeitgebermarkt zum Arbeitnehmermarkt?
Der Trend geht tatsächlich in diese Richtungen. Viele Unternehmen haben realisiert, dass sie als Arbeitgeber attraktiv sein müssen, damit sie weiterhin gute Arbeitskräfte bekommen. In manchen Branchen gibt es bereits heute einen grossen Wettbewerb um das Personal.

Um dem Arbeitskräftemangel entgegenzuwirken muss der Wirtschafts- und Lebensraum Zürich noch attraktiver werden – sowohl für Unternehmen als auch für Arbeitnehmende.

Was können Arbeitgeber tun, um in Zukunft attraktiv für Arbeitskräfte zu sein?
«New Leadership» und «New Work» sind in diesem Zusammenhang zentrale Begriffe. Das bedeutet, dass alternative Arbeitsformen gefördert werden und eine Führungskultur etabliert wird, die weniger auf Hierarchien basiert und dafür mehr auf Inspiration und Sinnvermittlung setzt. Von grosser Bedeutung sind zudem die Anstrengungen der Unternehmen in der Weiterbildung ihrer Mitarbeitenden sowie die interne Personal- und Laufbahnentwicklung.

Welche sind die Berufe der Zukunft?
Diese Frage lässt sich nicht absolut beantworten. Wir brauchen auch in Zukunft in allen Wirtschaftszweigen gut ausgebildete Mitarbeitende, auch in den handwerklichen Berufen. Es zeichnet sich bereits heute in den MINT-Berufen, also in den technischen Berufen, ein grosser Mangel an Arbeitskräften ab. Es muss uns gelingen, zukünftig mehr junge Frauen für dieses spannende und zukunftsträchtige Berufsfeld zu begeistern.

Interview: Linda Stratacò, April 2022